Sechs Absolventen des Gymnasiums Andreanum saßen am 25. Februar 1908 bierselig in Hildesheim beieinander und brachten am Ende der Feier eine launige Postkarte auf den Weg.
Ein pensionierter Geschichtslehrer hat sich mit den Hintergründen beschäftigt.
Und Spannendes zutage gefördert.
von Christian Harborth
Man kann heute auf die Minute genau sagen, wann das Leben von Hans Levi endete. Seine Uhr blieb am 9. Februar 1920 um 15.30 Uhr stehen. Ein Zug hatte den Hildesheimer in dem kleinen Dorf Bonaforth bei Münden überrollt. Die Polizei fand später heraus, dass dabei auch der Zeitmesser beschädigt worden und stehen geblieben war. Die „Mündenschen Nachrichten“ brachten tags darauf zunächst eine knappe Notiz: „Eine männliche Leiche ist bei Bonafort aufgefunden worden; dem Vernehmen nach ist der Tote ein Student aus Hildesheim.“ Zwei Tage nach dem Todesfall folgte die genauere Zeitungsmeldung, in der auch über die Todesursache spekuliert wurde, zusammen mit grausigen Details, die heute niemand mehr öffentlich nennen würde. Hier wurde auch Levis Name in voller Länge gedruckt.
Die Familie aus Hildesheim, bekannte Geschäftsleute aus dem Hohen Weg, schaltete wenig später eine Todesanzeige in der HAZ. Ihr Sohn, Student der Philologie, sei als „Opfer des Weltkriegs“ verstorben. Und zwar „infolge einer sich im Felde zugezogenen schweren Kopfwunde und eines hierdurch entstandenen Unglücksfalles“, wie es in der Todesanzeige hieß. In Hildesheim setzte sich danach die Auffassung durch, Levi sei als vorheriger Teilnehmer des Ersten Weltkriegs ein Opfer desselben geworden. So ist es auch in mehreren Büchern festgehalten.
Doch das stimmt so nicht. Herausgekommen ist es, weil ein pensionierter Geschichtslehrer aus Baden-Württemberg vor drei Jahren durch Zufall auf eine alte Postkarte stieß, die sein Interesse weckte. Die Karte, vor mehr als 100 Jahren von Abiturienten des Andreanums gezeichnet, unterschrieben und an den Bruder eines der Schüler geschickt, ließ den Historiker nicht los und führte ihn in eine spannende Welt der Hildesheimer Schulabsolventen, in die Ursprünge des Grimme-Preis-Namensgebers und zu eben jener bekannten jüdischen Kaufmannsfamilie aus dem Hohen Weg, die offenbar nach dem Tode ihres Sohnes daran Anteil hatte, dass die wahren Hintergründe mindestens in Teilen verschleiert wurden. Aber der Reihe nach.
Der Postkarten-Krimi beginnt 2018 mit einem Zufallsfund. Alfred Hottenträger, pensionierter Geschichtslehrer des altehrwürdigen Esslinger Georgii-Gymnasiums, sucht im Internet nach alten Ansichtskarten. Dabei stößt er bei einem Händler auf ein Exemplar aus dem Jahr 1908. „Abiturientenkommers Gymnasium Andreanum 1908“ ist auf der Vorderseite groß zu lesen. Dazu eine Zeichnung von zwei jungen Männern, die unter Holzfässern hocken. Dem linken wird ganz offensichtlich Wissen eingetrichtert, dem rechten Alkohol. „Vor und nach dem Examen“ steht darunter zur Erklärung. Auf der Rückseite haben mehrere Menschen unterschrieben. Hottenträger kann spontan Namen wie Grimme und Levi entziffern. Sein Interesse ist geweckt. Er klickt auf „Kaufen“.
Der 70-Jährige ist ein akribisch forschender und akkurat arbeitender Pensionär, der in einem kleinen Dorf im Schurwald in Baden-Württemberg lebt. Er hat familiäre Beziehungen in den Raum Hildesheim. Seine Eltern hatten sich einst in Alfeld kennengelernt. Er selbst wurde aber in Unterfranken geboren, hat mit dem Raum Hildesheim deshalb recht wenig zu tun. Vor allem mit dem Andreanum, das weder er noch ein Verwandter besucht hat.
„Mein Interesse an dem Thema ist über viele Umwege entstanden“, sagt er. Er recherchierte vor vielen Jahren zu Schülern seines eigenen Gymnasiums, die in den Krieg ziehen mussten. Irgendwann landete er auf verschlungenen Pfaden beim Harsumer Kriegerdenkmal und den dort festgehaltenen Namen. „Und durch Zufall habe ich dann diese schöne Karte aus Hildesheim gefunden“, sagt der 70-Jährige. Kaum war sie bei ihm eingetroffen, war das Forscher-Feuer entfacht.
Nun ist vermutlich nicht jedem sofort ersichtlich, was an einer vor 112 Jahren innerhalb Hildesheims verschickten Postkarte spannend sein soll. Bei vielen könnte es aber spätestens beim Namen Grimme klingeln. Adolf Grimme, 1889 in Goslar geboren, war Niedersachsens erster Kultusminister und Generaldirektor des Nordwestdeutschen Rundfunks. Nach ihm ist der Grimme-Preis für die besten Fernsehsendungen in Deutschland benannt.
Grimme legte sein Abitur am Andreanum ab – und er muss am 25. Februar 1908 zusammen mit Hans Levi gefeiert und die Karte anschließend unterzeichnet haben. „Sie wurde noch am selben Abend in den Briefkasten geworfen“, sagt Hottenträger. Der Poststempel datiert auf den 26. Februar. Wenig später trifft die Karte bei Richard Levi, Hans Levis jüngerem Bruder, am Hohen Weg 5 ein. „Lieber Herr Bruder! Ich gedenke deiner beim Glase Bier u. rufe dir ein fröhliches Prosit zu. Dein dich herzl. lieb. Bruder Hans.“, kann dieser gleich neben der kunstvollen Zeichnung lesen.
Richard Levi ist zu dieser Zeit fast neun Jahre alt. Und im Gegensatz zu seinem Bruder steht ihm das Grauen der Nazizeit noch bevor: Richard Levi wird 1942 von den Nazis in Auschwitz ermordet. An sein Schicksal erinnert vor seiner einstigen Schule, dem Scharnhorstgymnasium, auch ein Stolperstein:
Auf der Karte, die Hans Levi seinem Bruder geschickt hat, haben sechs weitere Abiturienten der beiden Oberprimen 1907/1908 unterschrieben: Heinrich Hennis (als Einziger mit Vor- und Zunamen), Wunstorf, Grimme, Wippern, Rauterberg und ein Schüler, der mit Nachnamen wohl Mörchen hieß. Dahinter verbergen sich die erfolgreichen Reifeprüflinge Heinrich Mörchen, Heinrich Hennis, Otto Wunstorf, Adolf Grimme, Karl Wippern und Bruno Rauterberg. Sie alle müssen Freunde von Levi gewesen sein, und es ist sehr wahrscheinlich, dass sie alle an jenem 25. Februar beisammensaßen und feierten. Insgesamt hatten 30 Schüler die Reifeprüfung bestanden, 37 waren angetreten.
Aber wer waren die anderen jungen Männer, die mit Levi und Grimme feierten? Hottenträger hat ihre Biografien so gut es geht erforscht. Heinrich Mörchen war der Sohn des Direktors der Provinzial-Taubstummenanstalt Hildesheim, Heinrich Hennis der Sohn des gleichnamigen Lokomotivführers aus Nordstemmen. Otto Wunstorf wurde offenbar Chemiker in Berlin, Karl Wippern wollte wohl den Hof der Familie in Emmerke übernehmen. Aber daraus wurde nichts. Er starb gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 in Belgien. Bruno Rauterberg wollte Lehrer wie sein Vater Albert werden, der am Andreanum Latein, Griechisch und Deutsch unterrichtete. Nach seinem Studium kämpfte er im Ersten Weltkrieg, unterrichtete ab 1918 an verschiedenen Schulen der Umgebung – und fing am 1. Dezember 1940 an der nach dem preußischen Heeresreformer Gerhard von Scharnhorst benannten Oberschule für Knaben in Hildesheim an.
Wer sich die Zeit nimmt und in Stadt- und Kirchenarchive abtaucht, alte Adressbücher studiert und Militärakten anzapft, dem fächern sich auch mehr als 100 Jahre nach zurückliegenden Ereignissen ganze Persönlichkeiten samt dazugehöriger Lebenswege auf. Im Fall der alten Postkarte war dies vor allem das Leben von Hans Levi.
Es ist beachtlich, was Hottenträger zu dem am 29. Mai 1890 in Hildesheim zur Welt gekommenen Mann zusammengetragen hat. Sein Vater James führte das Textilhaus im Hohen Weg, gleich neben der Ratsapotheke. Hans Levi war ein besonders guter Schüler und 1908 einer der jüngsten Reifeprüflinge seiner Schule. Er immatrikulierte sich gleich zu Ostern 1908 zum Sommersemester an der Georg-August-Universität in Göttingen im Fachbereich Philologie und wohnte im Düsteren Eichenweg 28. Aber hier wurde er offenbar nicht glücklich. Levi wechselte mehrfach die Universitäten und Wohnorte – ab 1914 zog er wie viele seiner einstigen Mitschüler in den Krieg.
Zu den folgenden Jahren konnte Hottenträger wegen der Militärarchive vieles zusammentragen. Aber für den „Krimi“ waren wohl vor allem zwei Ereignisse maßgebend: 1915 wurde Hans Levi im Felde leicht, zwei Jahre später sogar schwer am Kopf verwundet. Er erhielt für seine militärischen Verdienste das Eiserne Kreuz II. Klasse. Aber er kehrte offenbar nicht mehr als derjenige zurück, als der er aufgebrochen war.
Levi zog Ende April zunächst wieder nach Göttingen, nach rund drei Monaten aber zurück zu seiner Mutter in den Hohen Weg. Sein Vater James Levi war im November 1915 gestorben.
Warum sich Hans Levi das Leben nahm, lässt sich am Ende nur spekulieren. „Vielleicht war er unglücklich verliebt, vielleicht litt er aber auch unter den Folgen seiner Kriegsverletzung“, sagt Hottenträger. Dass es sich aber um einen Selbstmord handelte, ist wohl sicher. Die ermittelnden Polizisten stellten fest, dass sich Levi so auf die Gleise gelegt hatte, dass sein Kopf sauber abgetrennt wurde. Sein Leichnam wurde in Braunschweig eingeäschert. Was von ihm blieb, liegt auf dem jüdischen Teil des Hildesheimer Nordfriedhofs. Hans Levi wurde 29 Jahre alt.
Text und Fotos: Archiv Hildesheimer Allgemeine Zeitung [HAZ ], 13.03.2021