Beim Gedenktag am Lappenberg-Mahnmal erinnern Redner an die Reichspogromnacht 1938 – mit den Details befassen sich auch israelische Schüler, die gerade zum Austausch in der Stadt sind.

Inmitten eines Regenschauers stehen die Schülerinnen Marie Karst vom Andreanum und ihre israelische Austauschpartnerin Noga vor dem Mahnmal am Lappenberg und sprechen über die Reichspogromnacht. Genau vor 84 Jahren brannte genau an dieser Stelle die Hildesheimer Synagoge. Es geht um historische Schuld, ihre eigene Familiengeschichten und um das Erinnern. „Verstanden was die Pogrome waren, habe ich schon vorher. Aber wirklich erfahren ist etwas anderes“, sagt Marie.

Der Schulaustausch zwischen dem Hildesheimer Gymnasium und der Reut High School of Arts aus Haifa startete nicht zuletzt wegen umgebuchter Flüge und verloren gegangenem Gepäck mit Startschwierigkeiten. Jetzt sind aber alle bei Gastfamilien im Landkreis angekommen. Am Mittwochmorgen, bevor die Stadtführung losgeht, hört Stufenleiter Ophir Ilzetzki den Jugendlichen beim gemeinsamen Singen im Musikraum des Andreanum zu. Seine Schule in Haifa hat ein künstlerisches Profil mit Musik, Design und Kunstkursen und auch im Austausch sollen kleine Präsentationen und Performances entstehen. Als nächstes steht aber ein Stadtrundgang durch Hildesheim an. In ihrer Doppelfunktion als Geschichtslehrerin und Stadtführerin fängt Kerstin Speer direkt vor der Schule an.

Kupferplatten auf dem Boden weisen auf jüdische ehemalige Andreaner und Andreanerinnen hin, die deportiert und ermordet wurden. Das Konzept der Stolpersteine ist vielen Jugendlichen aus Israel bekannt. Überhaupt: „Das Erinnern in Israel im Vergleich zu Deutschland ist komplett anders“, sagt Ilzetzki. Der Holocaust sei in Israel gesellschaftlich allgegenwärtig, auch in der Schule. „Die Staatsgründung Israels ist historisch mit der Vertreibung von Juden verbunden, dementsprechend haben eigentlich alle Menschen durch ihre Vorfahren eine persönliche Verbindung.“

 

Am späten Nachmittag des 9. November 2022 treffen sich zahlreiche Menschen zur Gedenkstunde vor dem Mahnmal am Lappenberg. Foto: Werner Kaiser

 

Die Tour durch die Stadt führt an Michaeliskirche und Dom vorbei Richtung jüdisches Viertel. Noga ist vorne dabei, auch als die Klasse am Lappenberg vor dem Mahnmal stehen bleibt. Der mit Davidsternen und religiösen Szenen versehene Kubus befindet sich dort, wo bis 1938 eine Synagoge stand. „Ab dem beginnenden 17. Jahrhundert wurden Juden am Lappenberg angesiedelt“, erklärt Kerstin Speer die historischen Hintergründe. Die Gegend am Stadtrand sei dabei eher heruntergekommen gewesen. Der Begriff Lappenberg geht auf das Wort Lumpenbark zurück. „1848 war dann der Anfang des Baus der Synagoge.“

Die Gemeinde konnte nun aus dem baufälligen Hinterhaus, das sie vorher benutzte, in das neue Gebäude umziehen, allerdings nicht einmal für 100 Jahre. Nach immer stärker werdendem Antisemitismus im Dritten Reich setzten die Nazis und speziell die SS das Gotteshaus in der Nacht zum 9. November 1938 in Brand. Den Befehl zur Brandstiftung bekam der zuständige SS-Sturmbannführer Emil Frels per Telefon aus Berlin. Noch in der gleichen Nacht stellte er einen Trupp zusammen und brannte die Synagoge bis auf den Grund nieder. „Der Feuerwehr befahl er nicht einzugreifen“, sagt Kerstin Speer. Als „passiv“ beschreibt sie auch die Haltung vieler Hildesheimerinnen und Hildesheimer. Gerade in den folgenden Jahren, als Jüdinnen und Juden in Hildesheim immer mehr Diskriminierung erfahren mussten und im Jahr 1942 deportiert und ermordet wurden.

„Was die Reichspogromnacht ist, haben wir in der Schule gelernt.“, sagt Marie Karst. „Auch zum Krieg.“ Aber zur Hildesheimer Stadtgeschichte im Dritten Reich habe sie bis heute wenig gewusst. „Ich finde es sehr schwer, mir das vorzustellen.“ Das geht ihrer Austauschpartnerin anders. Mit dem Holocaust und Nazideutschland ist sie oft konfrontiert, fast täglich. In Schule, Gesellschaft aber auch persönlich. „Mein Urgroßvater stammt aus Polen. Viele aus meiner Familie wurden umgebracht.“ Vielleicht brauche es genau solche Momente des Austausches auf Augenhöhe, um wirklich zu verstehen was damals passiert sei, ist das Fazit der beiden Mädchen.

„Gut, dass jüdische Schüler nicht nur in die großen Städte kommen“, sagt auch Channah von Eickstedt über den Austausch. Sie ist Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Hildesheims und erzählt am Telefon von ihrer Arbeit in der kleinsten Gemeinde Niedersachsens. Aktualität hat die Debatte um versteckten und offenen Antisemitismus im Landkreis vergangenen Monat gewonnen. Das Logo eines neu gegründeten Bier-Vereins in Sarstedt hat Ähnlichkeit mit dem Davidstern. In Kneipen wurden mit dem Logo bedruckte Bierdeckel umgedreht, der Vorsitzende des Vereins berichtete von antisemitischen E-Mails. Auch von fehlender Bildung zeugten diese Aussagen, findet Channah von Eickstedt. In der kleinsten jüdischen Gemeinde Niedersachsens sei es aber zumeist ruhig. „Eine Insel der Seligen“, wie sie es formuliert. Die Augen verschließen vor dem zunehmenden Judenhass in Deutschland könne aber auch sie nicht: „Er steigt an. Jahr für Jahr.“

Text und Fotos: Archiv der Hildesheimer Zeitung, 10.11.2022

 

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